Historische SMBl. NRW.

 Aufgehobener Erlass: Obsolet durch Fristablauf am 31. Dezember 2017.

 


Historisch: Aufenthalt aus humanitären Gründen Anwendungshinweise zu den Anforderungen an ein Aufenthaltsrecht aus § 25 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) i.V.m. Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) RdErl. des Ministeriums für Inneres und Kommunales - 15-39.07.17-1-12-023(2603) - v. 2.7.2012

 

Historisch:

Aufenthalt aus humanitären Gründen Anwendungshinweise zu den Anforderungen an ein Aufenthaltsrecht aus § 25 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) i.V.m. Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) RdErl. des Ministeriums für Inneres und Kommunales - 15-39.07.17-1-12-023(2603) - v. 2.7.2012

Aufenthalt aus humanitären Gründen
Anwendungshinweise zu den Anforderungen an ein Aufenthaltsrecht aus § 25 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz (AufenthG)
i.V.m. Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)

RdErl. des Ministeriums für Inneres und Kommunales - 15-39.07.17-1-12-023(2603) -
v. 2.7.2012

Mit der Erlassregelung wird die Zielsetzung verfolgt, eine möglichst einheitliche Praxis bei der Auslegung und Anwendung der Anforderungen an die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 5 AufenthG iVm Art. 8 EMRK zu erreichen. Vor dem Hintergrund und unter Berücksichtigung einer teilweise uneinheitlichen und sich noch weiter entwickelnden Rechtsprechung sollen die nachfolgenden Anwendungshinweise eine vorläufige Orientierung geben. Die Hinweise beschränken sich auf die Bedeutung von Art. 8 EMRK für die Erteilung eines humanitären Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 5 AufenthG im Zusammenhang mit dem Recht auf Achtung des Privatlebens. Soweit sich bei der Prüfung unter Berücksichtigung der gesetzlichen Zielsetzungen in § 1 AufenthG Bewertungs- und Entscheidungsspielräume ergeben, sollen diese zugunsten der Betroffenen genutzt werden.

I. Grundlagen und allgemeine Hinweise

§ 25 Abs. 5 AufenthG regelt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen ohne Beachtlichkeit der Sperrwirkung nach § 11 AufenthG an vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer, wenn diesen die Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Bei festgestellten Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG geht § 25 Abs. 3 AufenthG als speziellere Norm vor. Für die Anwendung von § 25 Abs. 5 AufenthG sind daher überwiegend nur inlandsbezogene Abschiebungshindernisse von Bedeutung. Insoweit muss auch der konventionsrechtliche Schutz des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK in den Blick genommen werden.

Die EMRK ist nach ihrer Transformation in innerstaatliches Recht bei der Rechtsanwendung im Rang eines einfachen Bundesgesetzes zu beachten. Gesetze sind im Lichte der EMRK auszulegen und die zur Konvention ergangenen Entscheidungen des EGMR sind im innerstaatlichen Bereich zu berücksichtigen (vgl. u.a. BVerfG, Beschluss vom 14.10.2004 - 2 BvR 1481/04). Aus Art. 8 EMRK können sich sowohl Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe als auch positive Schutzpflichten für staatliche Stellen ergeben.

Es ist allgemein anerkannt, dass unmittelbar aus Art. 8 EMRK kein Recht abgeleitet werden kann, in einen bestimmten Staat einzureisen oder sich dort aufzuhalten und nicht ausgewiesen zu werden. Im Zusammenhang mit § 25 Abs. 5 AufenthG ist allerdings zu berücksichtigen, dass Art. 8 EMRK ein inlandsbezogenes rechtliches Ausreisehindernis begründen kann. Wenn eine Abschiebung nach dem  Völkervertragsrecht (Art. 8 EMRK) unterbleiben muss, bedingt dieses Abschiebungsverbot zugleich die Annahme, dass für einen Ausländer auch die freiwillige Ausreise wegen Unzumutbarkeit aus rechtlichen Gründen unmöglich geworden ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.6.2006 - 1 C 14.05). Liegen die Voraussetzungen für einen Schutzanspruch aus Art. 8 EMRK vor, ist davon auszugehen, dass mit einem Wegfall des Ausreisehindernisses in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist.

§ 25 Abs. 5 AufenthG ist nach der gesetzlichen Konzeption keine allgemeine Härtefallregelung. Deshalb können weitergehende allgemeine Zumutbarkeitserwägungen, die auf das Vorliegen eines Härtefalls abstellen, nicht zur Unmöglichkeit der Ausreise führen (vgl. BVerwG a.a.O.).

§ 25 Abs. 5 AufenthG kommt nicht die Funktion eines allgemeinen Auffangrechtes zu. Da Art. 8 EMRK ein Individualrecht garantiert, wird ein über § 25 Abs. 5 AufenthG begründetes Aufenthaltsrecht aber nicht durch andere humanitäre Regelungen verdrängt. Es ist daher auch neben einer gesetzlichen oder angeordneten Bleiberechtsregelung zu prüfen, ob ein Aufenthaltsrecht auf dieser Grundlage in Betracht kommt.

Bei einer Prüfung sind stets die gesamten Umstände des Einzelfalls in den Blick zu nehmen. Schematische Lösungen für Probleme, die eine Bevölkerungsgruppe betreffen, verbieten sich. Ein Aufenthaltsrecht können Personen erhalten, die ein nachhaltiges schützenswertes Privatleben entwickelt haben und dadurch zu „faktischen Inländern“ geworden sind, sofern deren weiterem Aufenthalt nach einer Abwägung im Einzelfall auch keine übergeordneten öffentlichen Interessen entgegenstehen.

Die nachfolgenden weiteren Hinweise folgen dem Aufbau der bei der Prüfung der Voraussetzungen für ein Aufenthaltsrecht aus § 25 Abs. 5 AufenthG iVm Art. 8 EMRK zu klärenden Anforderungen. Die zweistufige Prüfung der Konvention verlangt zunächst die Klärung, ob eine den Schutzbereich der Norm eröffnende Rechtsposition des Ausländers erwachsen ist (II.). Nach positiver Feststellung ist im Rahmen der Schrankenprüfung durch eine Abwägung der individuellen Rechtsposition mit den zu wahrenden öffentlichen Interessen zu bewerten, ob der in der Durchsetzung der Ausreiseverpflichtung liegende Eingriff gerechtfertigt ist (III.). Weiterhin ist zu prüfen, welche sonstigen allgemeinen Voraussetzungen für die Titelerteilung beachtlich sind (IV.). Abschließend werden rechtliche Konsequenzen einer Titelerteilung aufgezeigt (V.).

II. Eröffnung des Schutzbereiches von Art. 8 Abs. 1 EMRK

1. Schutzbereich von Art. 8 EMRK

Aus Art. 8 Abs. 1 EMRK folgt das Recht einer Person auf Entfaltung und darauf, ein Netz von Beziehungen zu anderen Menschen und in die Gesellschaft zu knüpfen und weiter zu entwickeln. Geschützt wird das Recht auf Achtung des Privatlebens als Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind und denen angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21.2.2011 - 2 BvR 1392/10). 

Es ist anerkannt, dass grundsätzlich von einem weiten Schutzbereich der Norm auszugehen ist. Es sind aber qualitative Mindestanforderungen zu erfüllen, damit von einem entwickelten Privatleben mit Schutzanspruch ausgegangen werden kann. Die langjährige Dauer des Aufenthalts reicht für sich gesehen zur Bejahung der Schutzbereichseröffnung nicht aus. Der Ausländer muss über intensive Bindungen verfügen, so dass sich sein dauerhafter Lebensmittelpunkt in Deutschland befindet und sich seine Beziehung zum Herkunftsstaat nur noch auf eine formale Verbindung beschränkt. Insoweit ist auf dieser Prüfungsstufe zu ermitteln, ob eine schützenswerte Rechtsposition durch eine Verwurzelung in persönlicher, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht erwachsen ist.

Dafür ist im Einzelfall auf aussagekräftige Indizien abzustellen wie z. B.:

> persönliche Verwurzelung

- Dauer des Aufenthalts (vgl. nachfolgend Ziffer 2.1),

- Lebensalter,

- im Inland geboren oder als Kleinkind eingereist,

- Grund für die Dauer des Aufenthalts,

- keine Unterbrechungen des Aufenthalts,

- zwischenzeitlicher rechtlicher Aufenthaltsstatus (vgl. nachfolgend Ziffer 2.2),

- Zusammenleben mit Familienangehörigen

> gesellschaftliche Verwurzelung

- Beachtung gesetzlicher Vorschriften,

- keine Begehung von Straftaten,

- gute Kenntnisse der deutschen Sprache,

- Teilnahme am gesellschaftlichen Leben,

- regelmäßiger Schulbesuch der Kinder

> wirtschaftliche Verwurzelung

- Sicherung des Lebensunterhalts durch Erwerbstätigkeit,

- kein Anspruch auf Sozialleistungen,

- Ausbildung und Schulabschluss,

- sonstige besondere Befähigungen,

- positive Zukunftsprognose möglich

Im Ergebnis muss anhand dieser oder anderer für eine Verwurzelung sprechenden Indizien festgehalten werden können, dass der Ausländer über hinreichend intensive Bindungen verfügt, welche die Aussage rechtfertigen, dass von einem dauerhaft verfestigten Lebensmittelpunkt in Deutschland ausgegangen werden kann.

Auf der anderen Seite ist zu ermitteln, inwieweit noch eine Verbindung zum Herkunftsstaat besteht. Der Schutzbereich ist aber nur dann nicht eröffnet, wenn ohne weiteres erkennbar ist, dass die Verwurzelung im Herkunftsstaat noch überwiegt.

Im Rahmen der Schutzbereichsprüfung sind alle für eine Verwurzelung sprechenden Indikatoren gleichermaßen in den Blick zu nehmen. Dabei kann von der Nichterfüllung einzelner Anforderungen (z. B. unzureichende wirtschaftliche Verwurzelung wegen fehlgeschlagener beruflicher Integration) nicht zwingend auf die Nichteröffnung des Schutzbereichs geschlossen werden. Erst aus der Gesamtschau der Lebensumstände des Ausländers ergibt sich, ob von einer schützenswerten Rechtsposition durch Verwurzelung auszugehen ist.

Bei einem langjährigen ununterbrochenen Aufenthalt im Inland sollten die an eine Eröffnung des Schutzbereiches gestellten Anforderungen nicht überdehnt werden. Die Bewertung, ob die inzwischen erwachsene Rechtsposition überragendes Gewicht hat und im konkreten Fall auch entgegenstehende öffentliche Interessen überwinden kann, ist erst im Rahmen der Schrankenprüfung vorzunehmen (vgl. nachfolgend Ziffer II.).

2. Besondere rechtliche Problempunkte einzelner Indikatoren

2.1 Mindestdauer des Aufenthalts

Da stets die individuellen Umstände in ihrer Gesamtschau maßgebend sind, kann keine pauschale Mindestdauer als Grundlage für die Annahme einer hinreichenden Verwurzelung vorgegeben werden. Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass bei Personen, die ihre maßgebliche Sozialisierung noch im Herkunftsstaat erfahren haben, eine längere Aufenthaltsdauer vorliegen muss als bei denjenigen Personen, die ihre entscheidende Prägung im Inland erfahren haben. Die in § 104a AufenthG vorgegebenen Zeiten des Aufenthalts müssen vor allem bei Erwachsenen im Regelfall überschritten sein (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 19.8.2009 – 18 A 3049/08).

2.2 Art des Voraufenthalts

Nach dem gegenwärtigen Stand der Rechtsprechung kann davon ausgegangen werden, dass die Rechtmäßigkeit des Voraufenthalts und ein Vertrauendürfen auf den Fortbestand des Aufenthalts auch bereits für die Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 8 Abs. 1 EMRK Bedeutung erlangen kann (vgl. BVerwG, Beschluss vom 26.10.2010 - 1 C 18.09). Auf der anderen Seite wird es in besonders gelagerten Entscheidungen des EGMR und der Obergerichte als rechtlich möglich angesehen, dass auch bei geduldeten Personen die Eröffnung des Schutzbereichs nicht immer als von vornherein ausgeschlossen angesehen werden kann. In der Praxis sollte zur Problembewältigung wie folgt differenziert werden:

Ø  Aus einem der Behörde unbekannten illegalen Aufenthalt einer Person kann generell kein Vertrauensschutz und damit kein rechtlich geschütztes Privatleben abgeleitet werden.

Ø  Bei Personen, die als Erwachsene eingereist sind und zu keiner Zeit über ein Aufenthaltsrecht verfügt haben, fehlt eine Vertrauensbasis für den Aufbau eines rechtlich geschützten Privatlebens, wenn die Dauer ihres Aufenthalts in erheblichem Maße durch eigenes Verhalten belastet ist und von ihnen zumutbare Handlungen zur Erfüllung der Ausreisepflicht nicht vorgenommen worden sind. Bei einem Fehlverhalten von geringem Gewicht oder wenn ein solches bereits lange Zeit zurückliegt, kann im Einzelfall von der Eröffnung des Schutzbereichs ausgegangen werden. Ein schutzwürdiges Privatleben i.S.d. Art. 8 Abs. 1 EMRK kann überdies auch in solchen Fällen gegeben sein, in denen aus humanitären Gründen von einer zwangsweisen Beendigung des Aufenthalts im Bundesgebiet abgesehen wurde (vorübergehender Abschiebestopp z. B. wegen der schwierigen Sicherheits- oder Versorgungslage im Heimatstaat und den sich daraus für die Zivilbevölkerung allgemein ergebenden Gefahren) und mit der Erteilung von Duldungen die „Hand zum Verbleib“ gereicht wurde.

Ø  Bei erwachsenen Personen, die bereits als Kleinkind eingereist oder im Inland geboren worden sind und denen kein einen Vertrauensschutz ausschließendes eigenverantwortliches Fehlverhalten vorgeworfen werden kann, sollte in der Regel von der Eröffnung des Schutzbereichs ausgegangen werden.

Ø  Ein Vertrauendürfen auf den Fortbestand des Aufenthalts besteht außerdem in der Regel nicht, wenn ein früheres Aufenthaltsrecht nur für einen bestimmten vorübergehenden Zweck gewährt (z. B. Studium) oder zur Probe gewährt und nicht verlängert worden ist. In diesen Fällen kann allenfalls eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG in Betracht kommen, wenn aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls das Verlassen des Bundesgebietes für den Ausländer eine außergewöhnliche Härte bedeuten würde.

Der Legitimität des Aufenthalts kommt auch im Rahmen der Schrankenprüfung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK eine erhebliche Bedeutung zu. Wenn die Schrankenprüfung wegen entgegenstehender öffentlicher Interessen in jedem Falle zu einer Ablehnung führen muss, sollte in Erwägung gezogen werden, die Entscheidungsbegründung hilfsweise auch hierauf zu stützen.(vgl. nachfolgend III.).

2.3 Schutz von Minderjährigen

Auch Minderjährige können sich auf das Menschenrecht aus Art. 8 EMRK berufen. Ihr Status ist allerdings durch das Personensorgerecht und das Aufenthaltsbestimmungsrecht der Eltern geprägt. Die durch Art. 6 GG und Art. 8 EMRK geschützte Familieneinheit führt dazu, dass Kinder in der familiären Gemeinschaft grundsätzlich das aufenthaltsrechtliche Schicksal der Eltern teilen (vgl. BVerwG, Urteil vom 26.10.2010 - 1 C 18.09). Diesen Grundsatz hat der Gesetzgeber in den §§ 25a Abs. 1 und 104b AufenthG für das humanitäre Aufenthaltsrecht gelockert. Auch hinsichtlich der Kinder ist eine Verwurzelung anhand geeigneter Indikatoren zu ermitteln. Ihre Integrationsleistungen sind bezogen auf einen möglichen Individualanspruch und auf der Grundlage der familienbezogenen Gesamtbetrachtung im Rahmen der Schrankenprüfung differenziert zu würdigen (vgl. zu den Einzelheiten nachfolgend Ziffer III. 2).

III. Schrankenprüfung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK

1. Anforderungen an die Schrankenprüfung

Im Rahmen der Schrankenprüfung ist zu klären, ob der in der Nichtgewährung eines Aufenthaltsrechts liegende staatliche Eingriff zur Wahrung öffentlicher Belange verhältnismäßig und gerechtfertigt ist. Es ist eine Abwägung vorzunehmen zwischen dem gesetzlich in § 1 Abs. 1 AufenthG vorgegebenen öffentlichen Interessen an der Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern mit dem Interesse des Betroffenen an der Aufrechterhaltung der faktisch gewachsenen und von Art. 8 Abs. 1 EMRK grundsätzlich anerkannten privaten Bindungen im Inland.

Bei der Abwägung der Rechtsposition des Ausländers mit dem Recht des Staates auf Einwanderungskontrolle ist eine gewichtende Gesamtbewertung unter Berücksichtigung aller Umstände des jeweiligen Einzelfalls erforderlich. Das isolierte Herausgreifen einzelner Gesichtspunkte, denen eine besondere Bedeutung beigemessen wird, ist nicht zulässig (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21.02.2011 - 2 BvR 1392/10). Deshalb kann z. B. weder aus der fehlenden wirtschaftlichen Integration noch aus der mangelnden Legalität des Aufenthalts für sich allein auf ein Überwiegen des öffentlichen Interesses geschlossen werden, auch wenn diesen Gesichtspunkten eine hohe Indizwirkung zukommt. Es ist in diesem Zusammenhang die Aufgabe der Ausländerbehörde, sich mit den gesamten Lebensverhältnissen des Ausländers auseinander zu setzen und dessen gesamte Integrationsleistungen zu würdigen.

Maßgebend sind die Intensität der Verwurzelung und die Frage, inwieweit eine Reintegration im Herkunftsstaat weiterhin zumutbar ist. Dabei sind die als Indikatoren für eine Verwurzelung ermittelten Aspekte in ihrer Bedeutung zu gewichten und den gegenläufigen Indikatoren und dem widerstreitenden Interesse an einer geordneten Steuerung der Zuwanderung gegenüber zu stellen.

Hinsichtlich des Aspekts der (Re)Integration („Entwurzelung“) ist bedeutsam, welche Schwierigkeiten für den Ausländer - wiederum unter Berücksichtigung seines Lebensalters, seiner persönlichen Befähigung, seiner Schul- bzw. Berufsausbildung - mit einer (Re-)Integration in das Land seiner Herkunft bzw. Staatsangehörigkeit verbunden sind. Gesichtspunkte sind diesbezüglich vor allem, inwieweit Kenntnisse der dort gesprochenen und geschriebenen Sprache bestehen bzw. zumutbar erworben werden können, inwieweit der Ausländer mit den dortigen Verhältnissen (noch) vertraut ist und inwieweit er dort bei der (Wieder-)Eingliederung mit Hilfestellung durch Verwandte und sonstige Dritte rechnen kann, soweit dies erforderlich sein sollte.

Für die Gesamtabwägung ist zu berücksichtigen, dass je stärker ein Ausländer integriert ist, desto gewichtiger müssen etwaige entgegenstehende öffentliche Interessen sein. Bei Ausländern der 2. Generation kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass sie auf ihre im Inland geknüpften Beziehungen in besonderer Weise angewiesen sind. Im Ergebnis ist zu klären, ob das durch persönliche, gesellschaftliche und wirtschaftliche Beziehungen charakterisierte Privatleben auch unter Berücksichtigung der Gemeinwohlbelange zumutbar nur noch im Inland geführt werden kann.

Im Rahmen der Abwägung sollten als für die Rechtsposition des Ausländers prägende Gesichtspunkte eine Geburt in Deutschland, ein Aufenthalt der Bezugsfamilie im Bundesgebiet, eine erfolgte berufliche Integration oder eine erfolgreiche Vorbereitung auf ein Berufsleben und sonstige anerkennenswerte Integrationsleistungen sowie außergewöhnliche Schwierigkeiten bei einer (Wieder-) Eingliederung im Herkunftsstaat besonders berücksichtigt werden.

Öffentliche Interessen können vor allem durch die fehlende Legitimität von Einreise und Aufenthalt, die Begehung erheblicher oder wiederholter Straftaten oder das dauerhafte Angewiesensein auf öffentliche Sozialleistungen tangiert werden. Maßgebend ist allerdings stets eine Gesamtschau unter Berücksichtigung der konkreten Fallumstände sowie der individuellen Situation und des Verhaltens des Betroffenen.

Zu einer erfolgreichen wirtschaftlichen Integration gehört auch die Fähigkeit zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes. Gleichwohl ist insoweit keine schematische Betrachtung angezeigt, da die Umstände des Einzelfalls zu einer abweichenden Bewertung führen können. Insoweit ist es nicht erforderlich, dass über die gesamte Aufenthaltsdauer der Lebensunterhalt durch eigenes Erwerbseinkommen gedeckt werden konnte. Dabei ist auch zu berücksichtigen, ob Bemühungen um die eigenständige Sicherung des Lebensunterhalts angesichts eventuell bestandener aufenthaltsrechtlicher Beschränkungen (z. B. wegen des Vorrangprinzips nach § 39 Abs. 2 AufenthG insbesondere bei Geringqualifizierten) nicht zu einem fortdauernden Arbeitsverhältnis geführt haben und deshalb eine vollständige Unabhängigkeit von Mitteln der Sozialhilfe nicht gelungen ist. Im Rahmen der Abwägung kann als öffentlicher Belang auch der Bezug von Sozialleistungen weiterer Familienmitglieder berücksichtigt werden, deren Aufenthalt über den Schutz des Familienlebens gewährleistet wäre, sobald ein Familienmitglied infolge der Verwurzelung ein Aufenthaltsrecht erhalten würde.

2. Schrankenprüfung bei Familien mit Kindern

Es ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass für Familien mit minderjährigen Kindern zunächst von dem Grundsatz der familienbezogenen Gesamtbetrachtung auszugehen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.01.2011 – 1 C 22.09). Eine isolierte Betrachtung des Integrationsgrades eines Minderjährigen kann mit zunehmendem Alter und der damit verbundenen Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit und Prägung im Inland geboten sein. Dies ist bei Kindern ab dem 12. Lebensjahr im Einzelfall in Betracht zu ziehen; ab dem 16. Lebensjahr ist hiervon auszugehen. Integrationsleistungen der Kinder sind in der Gesamtabwägung angemessen zu würdigen. Bei einer Bewertung ist auch in Bezug auf ältere Kinder zu beachten, dass erhebliche einwanderungspolitische Interessen berührt sein können, wenn minderjährige Kinder ihren nicht integrierten Eltern ein Aufenthaltsrecht verschaffen würden (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 02.02.2010 – 18 B 1591/09). Ein Ausschlusstatbestand ergibt sich hieraus aber nicht.

Für das Kindeswohl ist es von Bedeutung, ob die Kinder bei einer Eingliederung im Herkunftsstaat wirksame Unterstützung durch die Familie erwarten können. Regelmäßig ist davon auszugehen, dass das Kindeswohl in erster Linie durch die Wahrung der Familieneinheit gewährleistet wird. Wenn minderjährigen Kindern ausnahmsweise abweichend von der familienbezogenen Gesamtbetrachtung ein eigenständiges Recht zusteht, sind die rechtlichen Wirkungen für andere Familienmitglieder in Folge möglicher Schutzansprüche aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK (Familienleben) zu beachten (vgl. auch unter Ziffer V.).

Volljährige Kinder sind rechtlich selbständig zu bewerten. Die Zurechnung früheren Fehlverhaltens der Eltern ist bei ihnen nicht zulässig. Eine belastete Legitimität des Aufenthalts auch während der Zeit ihrer Minderjährigkeit kann allerdings im Rahmen der Abwägung von Bedeutung sein.

IV. Allgemeine Anforderungen an die Titelerteilung

Die Ausschlussregelung in § 25 Abs. 5 Satz 3 und 4 AufenthG kommt bei einem festgestellten Schutzanspruch aus Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht zur Anwendung, da von einem unverschuldeten Ausreisehindernis auszugehen ist. Die Ausreisepflicht ist rechtlich unzumutbar geworden. Etwaiges Fehlverhalten ist bereits im Rahmen der Abwägung angemessen zu berücksichtigen.

Die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen sind grundsätzlich zu beachten, soweit die darin enthaltenen Anforderungen nicht bereits im Rahmen der Abwägung als Aspekte der öffentlichen Interessen erschöpfend abgehandelt worden sind. Insbesondere die Anforderungen nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 und  Nr. 3 und Abs. 2 AufenthG können in diesem Zusammenhang dann nicht mehr gegen die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis sprechen. Zu berücksichtigen ist außerdem, dass sich ein atypischer Ausnahmefall von der Regelerteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG auch aus Gründen höherrangigen Rechts wie etwa Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK ergeben kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 30.04.2009, - 1 C 3/08 -) und die in diesen Normen enthaltenen Wertentscheidungen auch im Rahmen der Bewertung der Unterhaltsverpflichtung für die Bedarfsgemeinschaft zu berücksichtigen sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 16.11.2010, - 1C 20.09).

Die Anforderungen nach § 5 Abs. 1 Nr. 1a und Nr. 4 AufenthG bleiben als selbständige Regelerteilungsvoraussetzungen beachtlich. Der Ausländer muss die zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung seiner Identität und zur Beschaffung eines Passes oder Passersatzpapiers unternehmen (§ 5 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthV). Bemühungen sind als gescheitert anzusehen, wenn ihrer Fortsetzung keine realistischen Er-folgsaussichten (mehr) beigemessen werden können. Dies gilt auch, wenn im Einzelfall nachgewiesen ist, dass der Ausländer die Ausstellung eines Heimatpasses nicht erreichen kann, weil seine Eltern notwendige Mitwirkungshandlungen (z.B. bei der Registrierung) verweigern. Bei der Beurteilung, ob ein Pass auf zumutbare Weise erlangt werden kann, ist das festgestellte rechtliche Ausreisehindernis als besonderer Gesichtspunkt zu berücksichtigen. Macht der Heimatstaat z.B. die Passausstellung von der Ableistung des Wehrdienstes abhängig, ist die Erfüllung dieser Forderung regelmäßig nicht zumutbar, wenn der Ausländer deshalb Deutschland für einen längeren Zeitraum verlassen müsste und dadurch seinen Schutzanspruch aus Art. 8 EMRK dauerhaft verlieren würde.

Darüber hinaus kann im Rahmen der Ermessensentscheidung nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG iVm § 25 Abs. 5 AufenthG von der Klärung der Identität und/oder der Passpflicht abgesehen werden. Erforderlich ist hier jeweils eine umfassende Einzelfallabwägung, bei der insbesondere der Grad der Eigenverantwortlichkeit der Betroffenen für das Fehlen der Erteilungsvoraussetzungen zu gewichten ist. In Bezug auf die zu berücksichtigenden öffentlichen Interessen ist die Tatsache einzubeziehen, dass der Aufenthalt aufgrund des rechtlichen Ausreisehindernisses auch bei Ablehnung des Aufenthaltstitels auf unabsehbare Zeit weiter geduldet werden muss.

Wird bei der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach Ermessen von § 5 Abs. 1 Nr. 1a und/oder Nr. 4 AufenthG abgesehen, befreit dies den Ausländer nicht zugleich von der allgemeinen Obliegenheit, die Passpflicht nach § 3 Abs. 1 sowie die Pflichten nach § 48 Abs. 3 AufenthG und nach § 56 AufenthV zu erfüllen (vgl. Nrn 5.1.1a und 5.3.2.4 AVwV - AufenthG).

Im Übrigen sollen bei festgestellter rechtlicher Unzumutbarkeit der Ausreise wegen eines Schutzanspruchs aus Art. 8 EMRK die Ermessensentscheidungen nach § 25 Abs. 5 und § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG regelmäßig zugunsten des Ausländers ausgeübt werden. 

In geeigneten Fällen sind auch eine schriftliche Zusicherung nach § 38 Abs. 1 VwVfG NRW, dass bei Erfüllung fehlender Voraussetzungen eine Titelerteilung erfolgen wird, oder der Abschluss von Integrationsvereinbarungen in Erwägung zu ziehen.

V. Sonstige rechtliche Hinweise

Bei Beantragung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen ist die Titelerteilung nach jeder in Frage kommenden Rechtsgrundlage zu prüfen. Regelungen, die ein Bleiberecht gewähren, schließen einen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG iVm Art. 8 EMRK nicht aus, da die EMRK eine Prüfung der Umstände in jedem individuellen Fall verlangt.

Bei aufenthaltsrechtlichen Maßnahmen, die sich gegen den Ehegatten eines Titelinhabers nach § 25 Abs. 5 AufenthG iVm Art. 8 EMRK richten, ist zu berücksichtigen, dass dem Titelinhaber die Ausreise und Begleitung des Ehegatten wegen des bestehenden Schutzanspruchs regelmäßig unzumutbar und dies im Rahmen von Art. 6 GG zu bedenken ist. Bei bereits in Deutschland lebenden Ehegatten und minderjährigen Kindern ist zu prüfen, ob eine Duldung oder ebenfalls eine Aufenthaltserlaubnis aus dem Schutzanspruch aus Art. 6 GG abgeleitet werden kann. Ein Familiennachzug (aus dem Ausland) ist während des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis nicht zulässig (§ 29 Abs. 3 Satz 3 AufenthG).

Die Verlängerung richtet sich nach den allgemeinen Bestimmungen (§ 8 AufenthG). Eine Aufenthaltsverfestigung ist unter den Voraussetzungen des § 26 Abs. 4 AufenthG möglich.

Es wird darauf hingewiesen, dass die Erlasse vom 28.02. und 03.06.2005, Az.: 15-39.05.01-2- nicht mehr gelten.

Im Auftrag

Gez. Block