Ministerialblatt (MBl. NRW.)
Ausgabe 2025 Nr. 2 vom 13.1.2025 Seite 27 bis 56
Runderlass zur Förderung des Täter-Opfer-Ausgleichs im Jugendstrafverfahren |
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zugehörige Anlagen : |
Runderlass zur Förderung des Täter-Opfer-Ausgleichs im Jugendstrafverfahren
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Runderlass
zur Förderung des Täter-Opfer-Ausgleichs
im Jugendstrafverfahren
Gemeinsamer Runderlass
des Ministeriums der Justiz
4210 – III. 86
des Ministeriums des Innern
IV – D 2 – 6591/2.8 und
des Ministeriums für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und
Integration
IV – B 2 – 6150
Vom 12. Dezember 2024
1
Vorbemerkungen
Der Täter-Opfer-Ausgleich, im Folgenden TOA, soll den durch eine
Straftat gestörten Rechtsfrieden zwischen der beschuldigten Person und der
geschädigten Person wiederherstellen. Jugendlichen und Heranwachsenden sollen
die Folgen ihrer Tat verdeutlicht und oft vernachlässigte Opferbelange der
Geschädigten berücksichtigt werden. Für die geschädigte Person soll auf außergerichtlichem
Wege eine von beiden Seiten akzeptierte Lösung zur Beseitigung oder wenigstens
Milderung der mit der Straftat verbundenen Folgen gefunden werden. Den
geschädigten Personen können überdies ein Zivilrechtsstreit und eine Vernehmung
als Zeugen erspart werden.
Der TOA kommt im Jugendstrafverfahren als erzieherische Maßnahme
zur Vorbereitung einer Diversionsentscheidung nach Maßgabe der
Diversionsrichtlinien vom 25. September 2023 (MBl. NRW. S. 1288) in Betracht.
Die Initiative für einen TOA kann von der beschuldigten Person, der
geschädigten Person und von Amts wegen erfolgen. Die Ausgleichsleistungen der
beschuldigten Person können finanzieller oder kompensatorischer Art sein.
Ein erfolgreich durchgeführter TOA kann dazu führen, dass die Staatsanwaltschaft
gemäß § 45 Absatz 2 des Jugendgerichtsgesetzes in der Fassung der
Bekanntmachung vom 11. Dezember 1974 (BGBl. I S. 3427), das zuletzt durch
Artikel 21 des Gesetzes vom 25. Juni 2021 (BGBl. I S. 2099) geändert worden
ist, von der weiteren Verfolgung der Straftat absieht.
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Rechtliche Grundlagen
Rechtliche Grundlagen für die Berücksichtigung des TOA sind bei
Jugendlichen und Heranwachsenden § 46 Absatz 2 Satz 2 6. Variante, § 46a des
Strafgesetzbuchs in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl.
I S. 3322), das zuletzt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 30. Juli 2024 (BGBl.
2024 I Nr. 255) geändert worden ist, § 10 Absatz 1 Satz 3 Nummer 7, § 21 Absatz
1 Satz 2, § 45 Absatz 2 Satz 2, § 105 Absatz 1 des Jugendgerichtsgesetzes, §
155a, § 155b der Strafprozessordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 7.
April 1987 (BGBl. I S. 1074, 1319), die zuletzt durch Artikel 3 des Gesetzes
vom 30. Juli 2024 (BGBl. 2024 I Nr. 255) geändert worden ist. Zu beachten sind
ferner § 29, § 30 der Gnadenordnung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 26.
November 1975 (GV. NRW. S. 16) in der jeweils geltenden Fassung.
Ist das Verfahren gerichtlich anhängig, ist zudem § 47 Absatz 1
Satz 1 Nummer 2 und 3 des Jugendgerichtsgesetzes zu beachten.
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Anwendungsbereich
3.1
Ein TOA kommt bei immateriellen und materiellen Schäden in
Betracht, und zwar auch in Fällen, in den es beim Versuch verblieben ist. Bei
der geschädigten Person muss in der Regel ein noch regelungsbedürftiger Schaden
vorliegen. Neben dem immateriellen Ausgleich (Reue, Verständnis, Versöhnung)
soll eine, wenn möglich abschließende, materielle Wiedergutmachung erreicht
werden. Soweit ein materieller Schadensersatz angezeigt ist, ist die
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der beschuldigten Person angemessen zu
berücksichtigen. Dabei sind Ratenzahlungen und – bei fehlenden finanziellen
Mitteln – auch Arbeitsleistungen in Betracht zu ziehen.
3.2
Ein TOA bei jugendlichen und heranwachsenden beschuldigten Personen
kommt grundsätzlich bei allen Delikten in Betracht, in denen eine natürliche
Person durch eine Straftat geschädigt wurde.
Bei der Sondierung der Bereitschaft zur Teilnahme am TOA ist der
Freiwilligkeit besondere Bedeutung beizumessen. Bei minderjährigen Beteiligten
ist jeweils die Zustimmung der Personensorgeberechtigten erforderlich. Es ist
stets zu vermeiden, dass insbesondere geschädigte Personen sich zu einer
Teilnahme am TOA gedrängt fühlen oder der Eindruck einer Bagatellisierung der
Tat entsteht. Eine Sekundärviktimisierung ist zu vermeiden. Dies ist bei der
Entscheidung, ob das konkrete Verfahren für den TOA tatsächlich geeignet ist,
stets in besonderem Maße zu berücksichtigen.
3.3
Das Bemühen um einen TOA darf nicht zu einer Einschränkung der
Unschuldsvermutung und von Verteidigungsrechten der beschuldigten Person
führen. Der TOA setzt voraus, dass die beschuldigte Person bereit ist, die
Verantwortung für die Tat zu übernehmen und die Wiedergutmachung und die
Begegnung mit der geschädigten Person ihr glaubhaftes Interesse ist.
3.4
Die Staatsanwaltschaft prüft vorrangig, ob das Verfahren nach § 170
Absatz 2 der Strafprozessordnung einzustellen oder nach § 45 Absatz 1 des
Jugendgerichtsgesetzes von der Verfolgung abzusehen ist.
3.5
Vorstrafen oder ein bereits in früheren Verfahren versuchter
Ausgleich schließen einen erneuten Ausgleich nicht von vornherein aus. Bei der
Entscheidung über das erneute Bemühen der Durchführung eines TOA sind die
Vorstrafen der beschuldigten Person und bereits erfolgte Ausgleichsversuche
nach Rücksprache mit der Ausgleichsstelle insbesondere im Hinblick auf eine
Gleichartigkeit oder ein ähnliches Verhaltensmuster in Bezug auf die neue Tat
zu prüfen und sodann in einer Gesamtbetrachtung mit den Erfolgsaussichten eines
erneuten Ausgleichs, der Prävention und dem Erziehungsgedanken abzuwägen.
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Ausgleichsstellen
4.1
Der TOA wird im Jugendstrafverfahren als eine die Erziehung
fördernde Maßnahme grundsätzlich von dem zuständigen öffentlichen Träger der
Jugendhilfe durchgeführt (Jugendamt).
4.2
Darüber hinaus können als Ausgleichsstelle je nach den Umständen
namentlich in Betracht kommen
a) der ambulante Soziale Dienst der Justiz,
b) der Soziale Dienst des Strafvollzuges bei inhaftierten Personen und
c) Träger der freien Jugendhilfe, z. B. Träger der Wohlfahrtspflege.
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Verfahren
5.1
Die Polizei klärt auf Basis des Sachverhaltes und insbesondere der
persönlichen Kontakte zur geschädigten Person und zur beschuldigten Person, ob
sich ein TOA anbietet und die Bereitschaft zur Durchführung bei beiden Parteien
vorhanden ist. In diesem Zusammenhang ist auch zu erfragen, ob zwischen den
Beteiligten ein formeller Ausgleich bereits stattgefunden hat oder angebahnt
wurde. Das Ergebnis ist aktenkundig zu machen und es ist gegebenenfalls ein TOA
zu empfehlen. Den Beteiligten händigt die Polizei ein Merkblatt zum TOA im
Jugendstrafverfahren nach Muster der Anlage zu diesem Runderlass aus.
5.2
Die Entscheidung, ob ein TOA versucht werden soll, trifft die
Staatsanwaltschaft in jedem Stadium des Verfahrens. Dabei sollen Anregungen der
Polizei oder anderer Stellen berücksichtigt werden. Zur Vorbereitung ihrer
Entscheidung kann sich die Staatsanwaltschaft auch des zuständigen Trägers der
Jugendhilfe oder des ambulanten Sozialen Dienstes der Justiz bedienen.
5.2.2
Zur Einleitung des TOA übermittelt die Staatsanwaltschaft der
Ausgleichstelle Namen und Anschrift der beschuldigten und der geschädigten
Person sowie die Akten oder zumindest alle erforderlichen Angaben zum
Sachverhalt und setzt ihr eine angemessene Frist zur Durchführung. Dabei weist
sie nicht-öffentliche Stellen ausdrücklich darauf hin, dass sie die
übermittelten Daten nur für Zwecke des TOA verwenden darf.
5.2.3
Sofern die Staatsanwaltschaft einen TOA nicht für angezeigt hält,
prüft sie, ob den Interessen der geschädigten Person auf andere Weise – etwa
durch eine andere Weisung oder Auflage – Genüge getan werden kann.
5.3
Werden Beteiligte von einer Rechtsanwältin oder einem Rechtsanwalt
vertreten, sind diese rechtzeitig über den beabsichtigten Ausgleich zu
unterrichten. Dies kann auch durch die Ausgleichsstelle geschehen.
5.4
Die Ausgleichsstelle nimmt unverzüglich Kontakt zu den Beteiligten
auf und lädt zum TOA ein. Bei auftretenden Schwierigkeiten, wie zum Beispiel
bei Rücknahme der Bereitschaft, oder absehbar gravierenden zeitlichen
Verzögerungen informiert sie die Staatsanwaltschaft.
5.4.2
Nach Abschluss ihrer Tätigkeit berichtet die Ausgleichsstelle der
Staatsanwaltschaft schriftlich über Verlauf und Ergebnis des Ausgleichs
beziehungsweise der Ausgleichsbemühungen.
5.5
Ist ein TOA erfolgreich durchgeführt worden, hat die beschuldigte
Person die Ausgleichleistung erbracht und sind weitere erzieherische Maßnahmen nicht
angezeigt, sieht die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung nach § 45 Absatz 2
des Jugendgerichtsgesetzes ab.
Als Erfolg kann auch das ernsthafte Bemühen der beschuldigten
Person um Wiedergutmachung der Tat gewertet werden, zu vergleichen § 45 Absatz
2 Satz 2 des Jugendgerichtsgesetzes.
5.5.2
Hat der Jugendrichter die Durchführung eines TOA nach § 45 Absatz
3, § 10 Absatz 1 Satz 3 Nummer 7 des Jugendgerichtsgesetzes auf Anregung der
Staatsanwaltschaft angeordnet, sieht die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung
ab, wenn der TOA erfolgreich durchgeführt wurde beziehungsweise sich die
beschuldigte Person um einen Ausgleich mit der geschädigten Person bemüht hat.
5.5.3
Die Staatsanwaltschaft unterrichtet die Ausgleichsstelle über den
Ausgang des Verfahrens.
5.6
Kommt ein Absehen von der Strafverfolgung nicht in Betracht, weil
nach Auffassung der Staatsanwaltschaft weitergehende Maßnahmen angezeigt sind
oder der TOA gescheitert ist, sorgt die Staatsanwaltschaft für den zügigen
Fortgang des Verfahrens. Dabei berücksichtigt die Staatsanwaltschaft im
weiteren Verfahren jedes ernsthaft auf Wiedergutmachung und Schadensausgleich
gerichtete Verhalten nach der Tat entsprechend dem Rechtsgedenken der § 46
Absatz 2 Satz 2, § 46a des Strafgesetzbuches zugunsten der beschuldigten Person.
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Zusammenarbeit
Alle Stellen und Einrichtungen, die Aufgaben des TOA wahrnehmen,
bemühen sich um eine enge und kooperative Zusammenarbeit, damit der TOA zügig
und in angemessener Zeit durchgeführt werden kann.
7
Gnadenbehörden und Gerichte
Die vorstehenden Regelungen gelten sinngemäß für Gnadenbehörden.
Gerichte können sie anwenden.
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Inkrafttreten, Außerkrafttreten
Dieser Runderlass tritt am Tag nach der Veröffentlichung in Kraft.
Gleichzeitig mit dem Inkrafttreten dieses Runderlasses tritt der
Runderlass „Täter-Opfer-Ausgleich im Jugendstrafverfahren“ vom 14. März 1995 (MBl. NRW. S. 558) außer Kraft.
- MBl. NRW. 2025 S. 28